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Autor*in:

Lioba Diez & Dr. Günter Metzges-Diez

Version

Nr. 1.0

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Warum wir uns mit Macht auseinandersetzen müssen

1628 stach die Vasa, das damals vermutlich größte Kriegsschiff der Welt, zum ersten Mal in See. Doch die Fahrt dauerte nur 20 Minuten. Beim ersten Windstoß kenterte die Vasa und sank. 30 – 50 Seeleute starben. Wie ist es dazu gekommen? Entgegen der ursprünglichen Planungen waren weitere, schwere Kanonen auf den oberen Decks installiert worden. Der schwedische König hatte es angeordnet, weil er von einem polnischen Kriegsschiff mit höherer Feuerkraft gehört hatte. Niemand hatte sich getraut, dem König zu widersprechen und so wurde das Schiff instabil. In der Management-Literatur ist heute vom sogenannten Vasa-Syndrom die Rede; es beschreibt wie fatal sich Macht und Gehorsam auf Kommunikation und den Erfolg gemeinsamen Handelns auswirken können[1].

Wenn wir uns mit Engagement für sozialen Wandel beschäftigen, beschäftigen wir uns mit Macht. Menschen arbeiten gegen die Macht von Konzernen, gegen Machtmissbrauch, gegen die Macht von Partikularinteressen und gegen die Macht von zerstörerischen Glaubenssätzen. Sie bieten “den Mächtigen” die Stirn und organisieren diejenigen mit weniger Macht.

So identifizieren wir uns als Social Change Engagierte selbst oft eher mit dem Gefühl von Ohnmacht. Doch je erfolgreicher wir sind, je mehr unsere Einschätzung zählt, je mehr wir verändern oder je größer unsere Organisation, Bewegung oder Kampagne wird: auf einmal finden wir uns selbst in einer relativ machtvollen Position wieder, zumindest gegenüber Mitarbeitenden, anderen Organisationen, … . In etablierten Organisationen geht dies oft mit Beförderung und der Übernahme positionaler Macht einher. In Bewegungen und informellen Strukturen damit, dass klar wird, wer unter den vermeintlich Gleichen das letzte Wort hat, wem widersprochen wird und wem nicht. In einer Machtposition verfügen wir über Ressourcen, legen Ziele, Strategien, Richtungen fest und entscheiden über Einstellungen oder Entlassungen. Eine ambivalente Position, die von vielen auch genauso wahrgenommen wird.

Parker Palmer schreibt dazu:

A leader is someone with the power to project either shadow or light onto some part of the world and onto the lives of the people who dwell there. A leader shapes the ethos in which others must live, an ethos as light-filled as heaven or as shadowy as hell.[2]

Ambivalenz gehört zur Leitungsrolle dazu: Werden wir noch gemocht, wenn wir mächtig sind? Wie verändern sich in der Führungsrolle und mit der Übernahme positionaler Macht die Beziehungen zu früheren Mitstreiter*innen? Wollen wir diese Veränderung? Einige von uns fühlen sich als Hochstapler*innen, fragen sich, ob ihnen die Macht und der Einfluss überhaupt zusteht und wann “der Schwindel” auffliegt[3]. Gerade im NGO-Bereich wissen wir, dass viele Kolleg*innen und Mitstreiter*innen Hierarchien und Machtpositionen grundsätzlich kritisch gegenüberstehen.

Oft aus sehr gutem Grund: Formelle (wie auch informelle) Machtunterschiede gehen zu oft mit Machtmissbrauch einher. Negative individuelle und organisationale Erfahrungen führen in manchen NGOs und alternativen Organisationen zur Ablehnung oder Leugnung von Macht. Macht wird dadurch unsichtbarer, unberechenbarer, destruktiver und heimtückischer. Wenn ich Machtunterschiede kenne und benennen kann, kann ich einen Umgang damit finden, kann steuern und konstruktiv damit umgehen.

Grund genug, sich das mit der Macht genauer anzusehen! Wie können wir positiv und verantwortungsvoll mit Leadership und Macht umgehen? Dieser Hintergrundtext soll helfen, deine Einstellung zu Macht und ihren Quellen zu erkunden und einen souveränen Umgang mit dem Phänomen Macht zu finden Wir stellen den Ansatz “Transformational Leadership” vor und geben Hinweise auf weitere Tools, die dir und deiner Organisation, Kampagne oder deinem Projekt helfen können, mit Machtverhältnissen umzugehen.

Starhawk, eine US-amerikanische Aktivistin, hat sich intensiv mit Macht in Sozialen Bewegungen und politischer Auseinandersetzung beschäftigt. Sie identifiziert 3 Typen von Macht[4]:

  1. Macht über
  2. Macht gemeinsam mit
  3. Macht von innen

Diese werden wir im Folgenden beschreiben und wir werden verschiedene Aspekte, die für die Praxis von Leitung in sozialen Bewegungen und gemeinwohlorientierten Organisationen relevant sind, näher beleuchten. Im Weiteren geht es um praktische Einwände, die “Haken” sozusagen: Es werden die Grenzbereiche einer auf “Macht gemeinsam mit” ausgelegten Führungsweise ausgelotet. Ein Fazit mit Ausblick rundet den Hintergrundtext ab.

“Macht über”

Starhawks Begriff “Macht über” schließt an klassische Machtdefinitionen wie bei Max Weber an. Weber bezeichnet als Macht, jegliche Chance den eigenen Willen gegenüber anderen auch gegen Widerstreben durchzusetzen[5]. Macht ergibt sich aus der Möglichkeit eines Menschen oder einer Institution, einem anderen Menschen oder Institution die Erfüllung von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen durch welches Mittel auch immer zu verweigern oder zu ermöglichen. Machtmittel können in diesem Bild von direkter körperlicher Gewalt, über die Verfügung über Ressourcen und Kapazitäten bis hin zu positionaler Macht reichen. Ein Beispiel für Letzteres, ist die Möglichkeit, aufgrund von rechtlichen Setzungen, über die Einstellung und Entlassung von Mitarbeiter*innen zu entscheiden.

Macht beschreibt in diesem Verständnis immer eine Beziehung und folgt der Vorstellung eines Handels. Aufgrund des Wunsches, eigene Bedürfnisse und Interessen zu realisieren, entsteht die Bereitschaft zur Folgsamkeit gegenüber der Person oder Institution, die dies ermöglichen oder verweigern kann. Die Vorstellung von “Macht über” folgt in diesem Sinne einer transaktionalen Logik[6]. Je mehr die Beziehung der Handelnden durch ein Machtungleichgewicht (Verfügungsmöglichkeit über / Abhängigkeit von handelbaren Ressourcen) geprägt ist, desto mehr droht sich die Beziehung von einem Subjekt-Subjekt-Verhältnis zu einem Subjekt-Objekt-Verhältnis zu verändern.

4 Sphären der Macht

Ein erweitertes Verständnis von Macht in komplexen Gesellschaften geht davon aus, dass “Macht über” sich auch in Strukturen manifestiert. Macht ergibt sich danach daraus, wer in einer Gesellschaft in der Lage ist, die Regeln (z.B. Gesetze) und Institutionen maßgeblich zu bestimmen und wer demzufolge in der Lage ist, Gesetze – bzw. in letzter Konsequenz staatliche Gewaltausübung – für die Durchsetzung seiner Wünsche, Bedürfnisse und Interessen gegen andere nutzbar zu machen. Dies gilt übertragen auf Organisationen auch dafür, wer die in einer Organisation geltenden Regeln bestimmt und wer diesen Regeln unterworfen ist[7].

Neben Verhalten und Strukturen gibt es aber noch zwei weitere, subtilere Ebenen, in denen sich “Macht über” konstituiert. So spiegelt sich Macht auch in dominanten Deutungsmustern und Begründungszusammenhängen. Welche Argumente werden gehört, welche nicht? Welche Perspektive gilt als diskutabel, welche nicht? Nach welchen Kriterien kann Wahrheit und Geltung behauptet werden? Und noch tiefer greift die Sphäre von Identität, Zugehörigkeit und Glauben. Wer gehört zum Kreis derer, denen Glauben geschenkt wird? Wem gebührt Ehre, wem nicht? Wer passt zur (Organisations-/Leit-)Kultur und wer nicht? Wer ist Mainstream, wer wird quasi aus Gewohnheit marginalisiert?

Allen vier Sphären der Macht – a) Verhalten, b) Strukturen, c) Deutungsmuster und d) tiefe Glaubenssätze – ist gemein, dass sie “Macht über” konstituieren und tradieren. Als Handelnde können wir uns der Strukturen und Bedeutungen bedienen. Je nach Kontext, Status, Herkunft, das heißt je nach Privileg, kann ich Strukturen und Bedeutungen in Einfluss wandeln.

Die Säulen der Macht

Aber stimmt diese Vorstellung von Macht als oben und unten?

Die Unterscheidung zwischen oben und unten, zwischen Befehlenden und Befehlsempfängern ist über Jahrhunderte gelernt. So stellen wir uns Macht häufig noch als Dreieck vor, mit dem König an der Spitze, dann die Minister, die Gefolgsleute und das Militär und unten das Volk. Folgsamkeit und Gehorsam können nach diesem Modell immer durch Gewalt erzwungen werden. Aber ist dieses Dreieck der Macht real oder ist es selbst ein machtvolles Deutungsmuster, das den Glauben an den Status Quo stärkt und damit Machtverhältnisse stabilisiert?

Möglich wäre auch ein anderes Bild: Im Bild der “Säulen der Macht” (Pillars of Power)[8] entsteht schon auf den ersten Blick ein anderer Eindruck. Hier steht das Dreieck der Macht auf der Spitze und ist schon daher eine eher wackelige Angelegenheit.

Dreiecke der Macht nach George Lakey
Quelle der Grafik zu Säulen der Macht: https://trainings.350.org/resource/understanding-people-power/ 

Damit es nicht umfällt, muss es gestützt werden. Im Falle des Königs verfügt er nur so lange über Macht, solange diese von Soldaten, von der Verwaltung, von Händler*innen, von Arbeiter*innen usw. gestützt wird. Macht ist so gesehen immer interdependent, d.h. abhängig von vielen anderen Faktoren[9]. Sie beruht auf dem Glauben aller Beteiligten, dass die Unterstützung von Machtpositionen durch viele andere fortbesteht. Alleine und ohne diese Unterstützung wäre der König nackt. Seine “Macht über” wird möglich durch Strukturen und geteilte Glaubenssätze (Legitimität).[10]

Diese Perspektive des US-amerikanischen Aktivisten, Quäkers und Trainers Georges Lakeys hilft uns, gesellschaftliche Macht zu analysieren und zu dekonstruieren. Die Vorstellung von Macht als instabiles Dreieck hilft uns auch Macht in Organisationen besser zu verstehen.

Tool von 350.org zum Dreieck der Macht und Pillars of Power

Im Tool “Die 4 Sphären der Macht” findest du eine strukturierte Anleitung zur Analyse von Machtverhältnissen entlang von Verhalten, Strukturen und Deutungsmustern.

Als Führungsperson einer Organisation bin ich machtlos, wenn meine Führungsposition von den Folgenden nicht anerkannt wird. Das gilt umso stärker, je unverzichtbarer kreatives, eigenständiges Handeln der Mitarbeitenden sind und je mehr Mitarbeitende Wissen einbringen, über das ich selbst als Führungskraft nicht verfüge. Macht in komplexen Systemen ist interdependent und verteilt.

Wir brauchen ein anderes Konzept von Macht: “Macht gemeinsam mit”.

“Macht gemeinsam mit”

In Organisationen Sozialen Wandels brauchen wir eine Idee von Macht, die dem entspricht, für das wir kämpfen oder was wir erreichen wollen. Warum müssen wir uns Macht als oben und unten vorstellen? Wir können Macht auch als Ermächtigung oder Ermutigung begreifen, als Verantwortungsübernahme. Macht als Befähigung wäre dann etwas, das uns erlaubt eine gemeinsame, neue Zukunft zu formulieren und uns miteinander dafür einzusetzen[11].

Um diese Perspektive geht es im Transformational Leadership Ansatz. Die Beziehung zu unseren Mitstreiter*innen und Kolleg*innen verstehen wir nicht in erster Linie transaktional[12], nicht als bloßen Austausch von Ressourcen zur Verwirklichung unserer Interessen. Der/die Andere ist für uns nicht Objekt, um unsere jeweils individuellen Ziele zu erreichen. Stattdessen findet die Begegnung von Subjekt zu Subjekt statt. Gemeinsam und auf Augenhöhe formulieren wir ein gemeinsames Ziel, dem wir folgen und weshalb wir zusammenarbeiten wollen.

Erich Fromm[13] hat in seinem Buch “Die Kunst des Liebens” bereits 1956 eine wichtige Unterscheidung getroffen: Wenn wir wirklich lieben, wechseln wir in der Beziehung zum Gegenüber vom “Modus der Wahl” (transaktional) zum “Modus des gemeinsamen Gestaltens” (transformational). Solange wir im Modus der Wahl bleiben und Beziehung nur als Ressourcenaustausch zum gemeinsamen Nutzen verstehen, ist die mit dem “Modus der gemeinsamen Gestaltung” einhergehende Tiefe und wirkliche Liebe nicht zu erreichen. Wir glauben, dass wir das Bild (bei allen Schwierigkeiten) auf die Situation von Führung übertragen können.

Mit dem Wechsel vom “Modus der Wahl” in den “Modus des gemeinsamen Gestaltens” wechseln wir auch vom Modus “Macht über” zum Modus “Macht gemeinsam mit”. Notwendig dafür ist die Anerkennung des Gegenübers als vollständige Person. Ihre Mitwirkung und Beteiligung an der gemeinsamen Idee können wir nicht darauf reduzieren, dass wir von ihr Arbeitszeit kaufen und entsprechende Gegenleistungen erwarten.

Was heißt das für unsere Führungspraxis?

A. Konzentration auf die gemeinsame Vision und die gemeinsamen Ziele

Wenn wir nicht im Modus von “Macht über” miteinander umgehen wollen, müssen wir die Gründe und Motivationen unserer Mitstreiter*innen jenseits eines Ressourcentausches verstehen. Wir müssen verstehen, dass ihre Motivation wie die unsere sich auch dadurch speist, die eigene und gemeinsame Welt verändern und zu einem besseren Ort machen zu wollen.

Also kommt es auf die Vision, die Mission, die Ziele, das “Wofür” des gemeinsamen Handelns an. Transformational Leadership bedeutet eine gemeinsame Richtung zu finden und zu formulieren, in dem sich der eigene Purpose (das, was uns selbst antreibt, tieferer Sinn) mit dem verbindet, was die anderen Mitwirkenden begeistert. Es geht darum, die Motivation aller Beteiligten wahrzunehmen, die Menschen in die gemeinsame Organisation mitbringen. Wenn wir eine gemeinsame Reise machen wollen, hilft es, wenn alle das Ziel dieser Reise kennen. Transformational Leadership heißt, andere mit einer Vision, einer Richtung, einer Mission zu berühren, zu begeistern und zu überzeugen. Erst eine gemeinsame Richtung macht “Macht gemeinsam mit” möglich.

Link zum Tool Visioning von Robert Gass

B. Verantwortung teilen und empowern

Führung oder Leadership wird hier in erster Linie als Bereitschaft und Fähigkeit verstanden, Verantwortung zu übernehmen – Verantwortung für einen Teilbereich oder gemeinsam für das Ganze. Der Anspruch Mitstreiter*innen als Gleiche, als Subjekt und nicht als Objekt zu sehen, legt nahe, dass wir, wo immer es geht, nicht nur Arbeit, sondern auch Verantwortung teilen. Unsere Vision: Eine Zusammenarbeit, in der alle Beteiligten Verantwortung übernehmen und dabei zugleich Führende wie Folgende sind. Deshalb geht es im Transformational Leadership viel um das Setzen transparenter Ziele, um Delegation, um Empowerment und Training.

Link zum Tool “Ziele setzen”

Link zum Tool “Delegation”

C. Zuhören, auf Augenhöhe kommunizieren und Konflikte proaktiv klären

Macht sei vor allem das Privileg, nicht lernen zu müssen, schrieb der Politikwissenschaftler K.W. Deutsch. Wenn wir anders führen wollen, ist unsere Aufgabe vor allem zu lernen und zu verstehen.

Deshalb ist “Zuhören können” eine der wichtigsten Fähigkeiten für Transformational Leadership. Verstehe ich wirklich, warum Mitwirkende in meiner Organisation reden, wie sie reden und handeln, wie sie handeln? Kann ich den guten Grund sehen, dem Mitarbeitende folgen? Den guten Grund sehen zu können heißt, aus der Perspektive der Mitarbeitenden denken zu können, ihre Bedürfnisse zu verstehen.

Zum Zuhören können gehört auch zu verstehen, wie ich selbst als Führungsperson gesehen werde, wo Mitarbeitende meine Stärken und auch meine Schwächen sehen. Das Instrument eines 360 Grad Feedbacks ist z.B. eine Möglichkeit, als Leitungsperson anonym Feedback zu bekommen, das mich sonst vielleicht nie erreichen würde (vgl. “Vasa-Syndrom”).

Natürlich kann ich den guten Grund der anderen Person akzeptieren und trotzdem eine andere Meinung haben. Transformational zu führen heißt zu verstehen und Konflikten nicht auszuweichen. Als Führungsperson habe ich auch die Aufgabe mir selbst zuzuhören, nach innen zu hören und mir auch über meine Beweggründe und Bedürfnisse klar zu werden.

Erst wenn ich mir sowohl über meine eigenen Beweggründe klar bin, als auch den guten Grund der anderen verstanden habe, kann ich gut führen. Ich habe dann drei Möglichkeiten:

  • Ich kann mich mit Blick auf die gemeinsame Mission überzeugen lassen und entscheiden, an dieser Stelle nicht zu führen, sondern zu folgen und zu lernen.
  • Ich kann mich mit Blick auf meine Verantwortung und Sichtweise entscheiden, in den Konflikt zu gehen und Klärung herbeizuführen (siehe Gewaltfreie Kommunikation von Marshall B. Rosenberg[14]).

            Hinweis auf Tool “Mutige Gespräche” von Robert Gass
  • Oder ich kann abwägen (soweit mir die dazu notwendigen positionalen Rechte gewährt sind), ob ich die Frage im Zweifel auch ohne Zustimmung der anderen entscheiden will (siehe nächstes Kapitel). Hier kommt es dann vor allem darauf an, sehr transparent und explizit über den Entscheidungsweg zu sein.

            siehe Tool “5 Wege der Entscheidung” von Robert Gass

Führung bedeutet deshalb nicht zwangsläufig, sich durchzusetzen. Es bedeutet die Verantwortung für einen zielführenden Prozess, ausgerichtet an der Vision der Organisation/des Arbeitsbereichs, zu übernehmen.

Gleichzeitig kann es nicht unser Ziel sein, Unterschiede zu verwischen und alle zu jeder Zeit glücklich zu machen. Denn kollektives Handeln ist nie widerspruchsfrei, Interessen und Bedürfnisse verschiedener Mitarbeiter*innen schließen sich manchmal gegenseitig aus, Interessen der Organisation liegen oftmals im Widerspruch zu partikularen Interessen oder Selbstbildern.

Unsere Aufgabe ist es, Konflikte um Ziele, Wege, Performance etc. proaktiv anzugehen und auf Augenhöhe so zu führen, so dass die Organisation oder der Arbeitsbereich der Vision näher kommt.

Chris Argyris und Donald A. Schön, Organisationslernen-Gurus in den USA, beschreiben in ihrem Buch “Die Lernende Organisation”[15] eine Methode, mit der wir uns bewusst machen können, inwieweit wir Konflikte offen und klar ansprechen.

In ihren Management-Trainings bitten sie eine*n Teilnehmer*in einen Konflikt in einzelnen Dialogschritten zu beschreiben. Dieser Dialog wird auf die rechte Seite eines Flipcharts geschrieben. Danach bitten sie im zweiten Schritt den*die Teilnehmer*in zu schildern, was er*sie bei jedem der Dialogschritte gedacht hat. Die Gedanken des*der Teilnehmenden zu eigenen Aussagen und zu Aussagen des*der Konfliktpartners*in werden auf die linke Seite des Flipcharts geschrieben. Anschließend wird diskutiert, inwieweit sich in diesen Gedanken eine Haltung auf Augenhöhe spiegelt. In vielen Fällen zeigt sich dabei, dass Führungskräfte Konflikte nicht ansprechen, um den*die andere nicht unnötig zu verletzen und Diskussionen nicht unnötig zu eskalieren. Die Folge: Sie nehmen sich selbst aus der Situation und beginnen das Gespräch und den*die Andere zu managen. Das Gespräch findet nicht mehr auf Augenhöhe statt.

Das bleibt wiederum nicht unbemerkt. Der*die betroffene Mitarbeiter*in spürt unwillkürlich, dass Probleme nicht angesprochen werden und beginnt unbewusst, das Spiel mitzuspielen. In der Folge wird er*sie ebenfalls Probleme nicht offen adressieren, weil ja sein*ihr Gesprächspartner*in offensichtlich nicht über diese Fragen reden möchte. Er*sie beginnt seiner*ihrerseits die Beziehung zu managen. Es entwickeln sich Tabus, die wie Elefanten im Raum stehen.

D. Strukturen und Regeln immer wieder überprüfen

Strukturen, Regeln und Vorschriften sind in komplexen Gesellschaften und Organisationen unverzichtbar. Sie schaffen unter allen Beteiligten Erwartungssicherheit. Sie ermöglichen enorme Effizienzgewinne durch Routinisierung und Arbeitsteilung. Das Rad muss nicht in jeder Situation neu erfunden werden.

Gleichzeitig spiegeln sie immer die Annahmen und Wahrheiten der Verantwortlichen der Zeit, in der sie beschlossen wurden, und laufen Gefahr, Menschen zum Regelungsobjekt zu degradieren.

Transformational Leadership prüft deshalb regelmäßig,

  1. ob geltende Regeln transparent und allen Beteiligten gleichermaßen bekannt sind. Nur wenn ich die offiziellen und inoffiziellen Regeln einer Organisation kenne, kann ich anderen in der Organisation auf Augenhöhe begegnen.
  2. ob geltende Regeln und Strukturen wirklich dazu dienen, die Vision und Mission der Organisation so wirksam wie möglich zu verfolgen und ob sie den heutigen Werten und Vorstellungen entsprechen. Strukturen müssen den Mitarbeitenden und ihrem Purpose dienen, nicht umgekehrt.
  3. ob Regeln von allen gleichermaßen eingehalten werden. Regeln, die nicht oder nur von Wenigen beachtet werden, zerstören Vertrauen und Erwartungssicherheit. Sie sollten überprüft und ggf. abgeschafft werden. Keine Regel haben ist besser als eine, die nicht beachtet wird.
  4. ob es Bereiche in der Organisation gibt, in denen der Mangel an Vereinbarungen zu Verunsicherung führt und Begegnungen auf Augenhöhe erschwert.

E. Eine inklusive Kultur sicherstellen und Privilegien regelmäßig überprüfen

“Macht über” spiegelt sich auch darin, wer in einer Organisation oder einem anderen sozialen System bestimmt, welche Themen es wert sind, diskutiert und besprochen zu werden. Wessen Anliegen und Sorgen werden gehört und wessen nicht?

Der Einfluss auf diese Fragen ist ungleich verteilt. In einem überwiegend männlich besetzten Vorstand ist es “ganz natürlich”, dass sich Problemwahrnehmungen und Lösungsvorschläge an männlichen Bedürfnissen und Vorstellungen orientieren. Sie bilden nicht nur die Mehrheit, sie formulieren auch die Norm.

Nach den Initiatoren der US-Non-Profit-Organisation Training for Change, George Lakey und Daniel Hunter, entwickelt sich in allen sozialen Systemen beinahe automatisch die Unterscheidung zwischen Mainstream und Margin. Einige Gruppenmitglieder werden als relevant und tonangebend wahrgenommen. Ihre Meinungen und Deutungen zählen. Andere werden im System an den Rand (Margin) gedrängt. Sie müssen um die Wahrnehmung der anderen kämpfen[16]. Wie sich Mainstream und Margin teilt, ist von Gruppe zu Gruppe und von Kontext zu Kontext unterschiedlich und doch oft eng verbunden mit bestehenden gesellschaftlichen Diskriminierungen. Dabei kommt es auch in von Diskriminierung betroffenen Selbsthilfegruppen zur Mainstream-Margin-Teilung, wenn z.B. in einer LGBTIQ-Gruppe Fragen des Klassenhintergrundes nicht wahrgenommen werden.

Marginalisierung ergibt sich in der Regel nicht aus bewussten Ausgrenzungsabsichten, sondern daraus, dass Beteiligten und insbesondere Führenden eigene Privilegien und die Diskriminierungserfahrungen anderer nicht bewusst sind. Der passende Begriff hier ist Privilegienunwissenheit. Das Problem ist, dass unsere eigenen Privilegien für uns oft nicht erkennbar sind. Als sich selbst als weiß Lesende*r kann ich die Situation einer Mitarbeiterin nicht nachfühlen, die als einzige Schwarze mit mir in einem Team arbeitet. Ich weiß nicht, wie sich alltägliche, rassistische Verletzung anfühlt. Genausowenig kann ich, wenn ich in einer Akademikerfamilie groß geworden bin, erahnen, was unsere Zusammenarbeit für eine*n Mitarbeiter*in bedeutet, dessen*deren Eltern Arbeiter*innen oder Transferhilfeempfänger*innen waren.

Solange es nicht gelingt, soziale Systeme wirklich divers, inklusiv und vor allem bewusst zu gestalten, solange lässt sich schwer von “Macht gemeinsam mit” sprechen. Dies gilt sowohl für kollektive Organisationen mit ausgebildeten, informellen Hierarchien wie für Organisationen mit hierarchischer Steuerung. Wie aber kann ich sinnvoll handeln, wenn ich doch selbst so oft nicht in der Lage bin, meine Privilegien zu erkennen?

  1. Ich kann zunächst versuchen, mir meiner Privilegien so bewusst wie möglich zu sein und in diesen Bereichen besonders vorsichtig mit vorschnellen Urteilen zu sein. Ansätze wie z.B. Workshops zu Critical Whiteness versuchen dieses Problem zu adressieren.
  2. Ich sollte Berichten über Diskriminierungserfahrungen besonders genau zuhören und diese ernst nehmen.
  3. Ich sollte Menschen aus den Rändern meiner Organisation bewusst stärken und deren Selbstorganisationsprozesse unterstützen indem ich z.B. die Gründung von Diversitätsausschüssen oder Betriebsräten begrüße. Wenn vormals marginalisierte Stimmen strukturell stärker und hörbar werden, werde ich bei der Suche nach meinen weißen Flecken entlastet. Durch deren Kritik und Widerspruch kann die Organisation lernen und vollständiger werden.

Gleichzeitig müssen wir die Räume, Regeln, Strukturen, Prozesse und Menschen in unserem System vor Machtmissbrauch schützen. Viele denken dabei zunächst an physische und psychische Gewalt oder sexuelle Übergriffe und es ist natürlich richtig, solchen Entwicklungen mit all der uns auch formal gegebenen “Macht über” konsequent entgegenzutreten.

Das Verständnis hier geht aber weiter. Nach Robert Gass[17], Trainer für Transformational Leadership in den USA, müssen wir uns als transformational Führende auch viel subtileren, gesellschaftlich akzeptierten Formen des Machtmissbrauchs stellen.[18] 

Missbrauch von Macht tritt demnach schon dann auf, wenn wir unsere verdienten und unverdienten Privilegien nicht reflektieren. Wenn wir im “Macht über”-Modus handeln, obwohl “Macht gemeinsam mit” möglich wäre. Wenn wir unsere Position dafür nutzen, private Ziele zu verfolgen, wie z.B. Anerkennung, Kontrolle, Überlegenheit. Wenn wir unser Verhalten durch unser Ego bestimmen lassen, statt die uns übertragene Macht dafür zu nutzen, der Mission der Organisation zu dienen.

Dies alles ist nicht einfach und keine Frage von Schuld. Diesen Anforderungen gerecht zu werden ist eher eine Frage kontinuierlichen Trainings und Abwägung. Es ergeben sich besondere Herausforderungen an die eigene Klarheit und Souveränität. Diesen Herausforderungen stellen wir uns im folgenden Abschnitt “Macht von innen”.

“Macht von innen”

Verantwortung zu übernehmen braucht Mut. Leadership im Sinne von “Macht gemeinsam mit” braucht besonderen Mut. Denn ob “Macht gemeinsam mit” gelingt, hängt nicht von meiner Position, meinem Budget oder meinen Entscheidungskompetenzen ab. Ob “Macht gemeinsam mit” gelingt, hängt davon ab, ob mir Menschen aus freien Stücken folgen, ob ich überzeugen und begeistern kann. Und es hängt genauso davon ab, ob ich selbst zuhören, dienen und folgen kann.

Woher nehme ich den Mut voranzugehen, mich zu zeigen, dafür einzutreten, was mir richtig und wichtig erscheint, und nicht vor Macht und Einfluss anderer zurück zu schrecken und zu verstummen? Und woher nehme ich die Gelassenheit und Klarheit, mein Ego zurückzustellen, zu erkennen, wann ich anderen dienen und folgen sollte?

A. Klarheit über meinen Purpose (tieferen Sinn)

So wie “Macht gemeinsam mit” von der Konzentration auf die gemeinsame Vision lebt, so lebt auch die “Macht von innen” von der Rückbindung an den eigenen Purpose, den tieferen, inneren Sinn. Wer bin ich? Wofür und für wen mache ich diese Arbeit? Was treibt mich an? Wem oder was diene ich? Welche Freuden, Ängste, Erwartungen stehen hinter meinem Engagement? Wie verbindet sich mein Purpose mit der Vision meiner Organisation?

Klarheit über diese Fragen hilft enorm. Sie gibt Kraft und Gelassenheit und lässt mich die Herausforderungen und Konflikte des Arbeitsalltags in Perspektive setzen[19]. Und sie gibt mir als Leader einen Kompass, mit dem ich andere mit einer gemeinsamen Vision berühren kann. Wenn wir aus unserem Purpose heraus handeln, bewegen wir uns in unserer “Zone of Leadership” wie Robert Gass den Begriff “Macht von innen” beschreibt[20].

Diese Zone of Leadership ist nicht einmal gefunden und dann für immer da. Sondern weil wir uns und die Welt sich beständig ändern, geht es um einen immer wiederkehrenden inneren Dialog, eine innere Reise, auf der ich unterwegs bin.

Die Form des Dialogs und was wir als Kraftquelle erleben, sind von Person zu Person unterschiedlich. Manche finden Kontakt zu ihrer inneren Macht in Spaziergängen, manche in Erinnerungen, manche im Sport, manche in einer bestimmten Körperhaltung, manche in der Mediation oder im Gebet oder auch im Zusammensein und Austausch mit anderen.

        Link zu State-Shifting-Tool von Robert Gass

Zeit für die Besinnung auf unsere “Macht von innen” schützt uns und andere davor, in unserem Führungshandeln unsere Egoismen auszuleben oder unsere biographischen Verletzungen auf Kosten anderer zu behandeln. Sie schützt uns auch vor einer rein instrumentellen Perspektive, in der wir “nur” unsere Rolle spielen und in der wir uns und andere zum Objekt machen. Unsere “Macht von innen” zu spüren ist für uns die Grundlage, Verantwortung zu übernehmen.

B. Die Möbiusschleife

Wann sind wir wir selbst? Der Quäker und Trainer Parker Palmer beschreibt eine Vorstellung, die für unser Verständnis von Transformational Leadership und für die Entwicklung unserer “Macht von innen” hilfreich sein kann.[21]

Als Kind unterscheiden wir nicht zwischen selbst und außen. Wir sind in der Welt und zeigen allen unvermittelt, wenn wir glücklich, wütend oder traurig sind. Ohne weiter nachzudenken sind wir, wer wir sind. Im Elternhaus, in der Kita oder in der Schule: irgendwann lernen wir, dass nicht alle unsere Anteile in jeder Situation gleich erwünscht sind. Wir passen uns an und wir erlernen Rollen und damit, Erwartungen anderer zu entsprechen. Durch diese Rollen lernen wir, störende innere Anteile zu verbergen, wir lernen zwischen innen und außen zu unterscheiden. Die Fähigkeit dazu ist ein wichtiger Schritt im Erwachsenwerden.

Parker Palmer gibt uns dafür ein anschauliches Bild. In seinen Trainings verteilt er Papierstreifen an die Teilnehmer*innen und bittet sie, die Enden miteinander zu verbinden. Es entsteht dabei ein Ring mit einer Innen- und einer Außenseite. Der innere Bereich symbolisiert unsere innere Wirklichkeit und der äußere Bereich, unsere öffentliche Seite, unsere Fassade, unsere Rollen. Der Ring ermöglicht uns, die inneren Anteile zu schützen und gleichzeitig nach außen handlungsfähig zu sein. Mit unserer äußeren Fassade sind wir zumindest zum Teil Objekt äußerer Erwartungen, im Innenraum können wir Subjekt sein[22].

Überspitzt gedacht, bewirkt der Ring, dass in unserem Rollenhandeln unsere Verletzungen, unsere Emotionen, unsere Ideen, unsere Kreativität, … so wenig Bedeutung wie möglich haben. Wenn wir unsere Rolle spielen und den äußeren Erwartungen optimal entsprechen, werden wir austauschbar, machen Erwartungssicherheit möglich[23]. Wir ordnen uns ein. Je weniger wir von unserem Inneren zeigen, um so professioneller gelten wir oftmals. Doch unsere Mitarbeiter*innen ahnen und spekulieren, welcher Mensch mit welchen Besonderheiten denn hinter der für sie beobachtbaren Rollenfassade sitzt. Natürlich funktioniert die Trennung nie vollständig. Unsere Gefühle, unsere Verletzungen, unsere Wünsche und Vorlieben spielen auch dann eine Rolle, wenn wir sie verdrängen. Und sie sind auch für andere spürbar. Es kommt zu Inkonsistenz und Irritation zwischen Empfinden und Rollenwahrnehmung. Es entsteht in der Zusammenarbeit das Gefühl von fehlender Authentizität.

Zurück zum Papierstreifen von Parker Palmer. Mit diesem Beispiel gibt er uns ein Gedankenbild, was uns bei unserer Suche nach unserer “Macht von innen” unterstützen könnte. Wenn man den Tesastreifen am Ende des Rings wieder löst, das eine Ende des Papiers um 180° dreht und dann beide Enden mit dem Tesa wieder verbindet, entsteht eine neue Form, eine Möbius-Schleife. Wenn wir nun mit einem Finger am Papierstreifen vorbeistreifen, merken wir, dass wir uns mal auf der Innenseite, mal auf der Außenseite des Rings befinden.

Bild einer Möbius-Schleife - David Benbennick, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons
David Benbennick, CC BY-SA 3.0 http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/, via Wikimedia Commons

Im Bild gesprochen bleibst du dir jeweils bewusst, dass es Rollenerwartungen gibt, denen du als Führungsperson in besonderer Weise ausgesetzt bist. Gleichzeitig verbindest du aber immer auch dein Inneres, deine eigene Motivation und deine Besonderheit mit dem, wofür du dich als Führungsperson engagierst. Du zeigst dich, auch weil du weißt, dass dies dir und deiner Mission Stärke gibt, dass es andere berührt und dass es schließlich die Grundlage dafür ist, sich von Subjekt zu Subjekt zu begegnen und sich gegenseitig nicht auf die Rollenbilder, die wir voneinander haben, zu reduzieren.

Entwicklung der “Macht von innen” bedeutet deshalb persönliche Entwicklung und sich selbst kennenlernen. Es bedeutet darum zu wissen, wer ich bin, was mich antreibt und auch den eigenen Schatten, d.h. meine eigenen schwierigeren Anteile und Verletzungen, anzuerkennen und zu akzeptieren.

Zu akzeptieren, dass ich genau so gut bin wie ich bin, hilft das eigene Ego zu beruhigen. Ich muss mir nichts beweisen, ich muss mich nicht schützen und ich kann aus meiner Zone of Leadership handeln.

C. Umgang mit Triggern

Doch wir sind nicht immer in unserer Zone of Leadership: Stress, Angst, Verletzungen und Konflikte triggern uns und bringen uns immer wieder ins Ungleichgewicht. Es gehört zur Entwicklung als  Leader, Verantwortung für uns selbst und unsere inneren Prozesse zu übernehmen.

Dazu gehört zum Beispiel zu erkennen, wenn wir “neben der Spur”, wenn wir getriggert sind.

“Getriggert sein” definiert Robert Gass als Situationen, in denen wir auf Impulse aus der Umwelt z. B. durch Mitarbeiter*innen, Kund*innen, Nachrichten, … unangemessen emotional reagieren. Die Situation ist dann nur der Auslöser (Trigger) für Reaktionen, deren Ursache woanders liegen. So kann es z.B. sein, dass uns ein sachlicher Hinweis eines/einer Kollegen/Kollegin an verletzende Zurechtweisungen unserer Eltern erinnert. Unsere Reaktion ergibt sich dann nicht aus der Wahrnehmung der Situation, sondern aus dem Wiedererleben einer biographischen Verletzung, auf die wir erneut reagieren. Bezogen auf die Situation ist unsere Reaktion unangemessen.

Ein anderes Beispiel könnte die Situation eines Vorstellungsgesprächs sein, in der uns der/die Bewerber*in an eine Person erinnert, in die wir einmal glücklich oder unglücklich verliebt waren. Auch hier kann unsere innere Reaktion so ausfallen, dass sie der eigentlich vorliegenden Situation unangemessen ist. Solche Übertragungen reaktivieren frühere Gefühle und Verletzungen und führen uns aus unserer Zone of Leadership.

Wir können nicht vermeiden, getriggert zu werden. Aber wir können als transformational Führende lernen, solche Situationen zu erkennen und zu spüren, wann wir getriggert sind. Nur wenn wir wissen, dass wir getriggert sind, können wir in der Situation angemessen reagieren, nämlich nicht handeln.

Und wir können Techniken entwickeln, wie wir wieder schnell in unsere Zone of Leadership zurückkehren können.

Link zum Toolkit “Managing your Triggers” von Robert Gass

D. Selbstfürsorge und Personal Ecology

Um die “Macht von innen” zu spüren, zu kultivieren und daraus handeln zu können, ist Selbstfürsorge zentral. Wenn wir selbst in unserer Mitte sind und unsere Bedürfnisse befriedigt sind, können wir aufmerksam zuhören, differenziert abwägen, weise entscheiden und klar kommunizieren. Daher ist es so wichtig, als Führende gut für uns zu sorgen.

Was meint ‘gut für mich sorgen’? Nein, zum Ego kommen wir erst im nächsten Abschnitt :-). Zum ‘gut für mich sorgen’ gehört genug schlafen, sich gut ernähren, achtsam und “artgerecht” mit dem eigenen Körper umgehen und emotional stärkende Beziehungen (auch außerhalb der Arbeitsrolle) pflegen. Im Begriff “Personal Ecology”, den wir im Training verwenden, steckt, dass auch wir als Führende Teil eines Ökosystems sind und physischen Bedürfnissen, organischen Prozessen und Rhythmen unterliegen.

Neben der Selbstfürsorge gehört zu der “Personal Ecology” auch die Selbstleitung als Leader: z.B. Stress bewusst vermeiden, Workload reduzieren, sich Raum für Führungsaufgaben nehmen (die wichtigen und nicht dringenden Dinge), Raum für Empathie nehmen und ein realistisches Bild meiner Selbst (vgl. 360 Grad Feedback: meiner Stärken und Entwicklungsfelder) entwickeln. Es ist gut, wenn wir das zunächst Unglaubliche erkennen: die Welt (oder meine Organisation, mein Projekt, …) wird auch ohne mich gerettet.

        Links Tools zu Personal Ecology von Robert Gass

E. Selbstbewusstsein und Ego

Leadership braucht Selbstbewusstsein und je mehr wir uns uns selbst bewusst werden, desto besser können wir führen. Selbstbewusstsein bedeutet hier, um im Bild der Möbius-Schleife zu bleiben, sich selbst so weit wie möglich bewusst zu sein; sowohl was den inneren Teil angeht, als auch was unsere nach außen wahrnehmbaren Rollen angeht. Selbstbewusstsein braucht insofern die Fähigkeit, das eigene Selbst vorurteilsfrei beobachten und lieben zu können.

Von diesem Selbst unterscheiden wir das Ego. Unter Ego verstehen wir einen Zustand des Bewusstseins, in dem wir uns selbst als klar getrennt und als besonders gegenüber anderen sehen. Eigenwert und Status werden in diesem Bewußtseinszustand dadurch bestimmt, wie wir von anderen im Lichte gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Normen gesehen werden. Der Vergleich mit anderen erhält eine hohe Bedeutung. Die Welt teilt sich in oben und unten, gewinnen und verlieren. Der Tod des Ego, d.h. der Verlust des vom Ego angenommenen Selbstbildes, wird dabei oft wie ein Tod der gesamten Existenz gefürchtet.[24]

Unser Problem: Gerade die Rolle als Leitende*r stärkt das Ego. Oftmals ist damit ein Gefühl von Besonderheit und Wichtigkeit verbunden. Unser Ego bemerkt sehr genau, dass unser Wort mehr zählt. Schnell fühlen wir uns wichtiger als andere und unersetzlich. Unser Ego freut sich über Status, Privilegien, Lob und Zuspruch, die mit der Rolle von Führenden oft verbunden sind.

In transaktionalen Führungsmodellen wird das Ego deshalb als Motivationsquelle gesehen und genutzt: Insignien der Macht wie Eckbüros, Dienstfahrzeuge, Chefsessel, eigenes Sekretariat, Dienstreisen, Boni … sollen die Leistungsbereitschaft von Führungskräften steigern, indem das Gefühl von Besonderheit, von Differenz zu anderen hervorgehoben und kultiviert wird. Gleichzeitig hilft der mögliche Entzug von Sonderrechten und Privilegien und damit der Zerstörung des damit verbundenen eigenen und öffentlichen Selbstbildes (das Gesicht verlieren), die Leistungsbereitschaft von Mitarbeitenden zu erhalten.

Aus transformationaler Perspektive ergeben sich aus einem starken Ego-Bezug Probleme:

  • Die Motivation, unser (öffentliches) Selbstbild zu erhalten, kann sinnvollen Entscheidungen im Sinne des eigenen Purposes oder der Vision der Organisation entgegenstehen. Aufgrund des in der Regel unbewussten Antriebs das eigene Gesicht zu wahren, übersehen wir wichtige Dinge und machen Fehler.
  • Unser Ego liebt Privilegien, kann aber ungerechtfertigte Privilegien nur schwer erkennen (Privilegienvergessenheit). Bewusst oder unbewusst erkennen unsere Kolleg*innen und Mitstreiter*innen diese aber sehr genau. Sie erschweren den Umgang auf Augenhöhe und vermitteln, dass in einer Organisation vor allem der Beitrag einer kleinen, besonderen Ingroup zählt.
  • Weil unser Ego das Gefühl von Besonderheit sucht, betont es – womöglich – positionale Unterschiede. Je stärker Mitarbeiter*innen aber positionale Machtunterschiede wahrnehmen, desto vorsichtiger und weniger offen werden sie mit Informationen umgehen. Informationen erreichen uns gefiltert und wir sehen noch weniger vom ganzen Bild (vgl. Vasa Syndrom).

Also – dann scheint doch alles ganz klar: wir verzichten einfach auf unser Ego. Nicht ganz. Das Ego ist ein nicht zu unterschätzender Teil von uns – und dazu ein Meister der Tarnung. Wenn wir unser Ego leugnen, findet es Mittel und Wege gerade da aufzutauchen, wo wir es am wenigsten vermuten und brauchen. Wir werden also als transformational Führende mit unserem Ego umgehen müssen.

Und gleichzeitig gibt es das Ego nährende Privilegien, die auch aus der Perspektive einer transformational geführten Organisation durchaus sinnvoll sein können (siehe auch nächstes Kapitel):

  • weil nicht jede*r alle Aufgaben gleich gut erledigen kann, kann Arbeitsteilung Sinn machen.
  • sich daraus ergebende positionale Rechte können Konflikte entschärfen und Prozesse beschleunigen.
  • auch ein Sekretariat bzw. persönliche Mitarbeiter*innen für Führungskräfte können hilfreich sein.
  • unterschiedliche Bezahlung nach Erfahrung und Kompetenzunterschieden können bei der Besetzung von Expert*innenstellen hilfreich sein.
  • mit bestimmten Aufgaben können Dienstreisen und eine BahnCard 100 einhergehen
  • usw.

Aber was können wir tun? Wieder geht es vor allem ums Zuhören. Ich kann mir selbst und anderen zuhören, ich kann mich und meinen Umgang mit anderen beobachten. Ich muss mich nicht verurteilen, wenn ich merke, dass mein Ego wieder mitspielen will. Wie bei den Triggern ist es vor allem wichtig zu merken, wann das Ego eine Rolle spielt und unsere Meinungen und Einschätzungen prägt. Wenn ich weiß, dass es da ist, kann ich mit ihm umgehen, es in Bahnen lenken. In jedem Fall kann ich mich entscheiden, noch einmal genauer hinzuhören, was die anderen sagen. Je nach Organisationskultur kann ich es sogar den anderen gegenüber offen legen und mit Humor nehmen.

Neben dem übersteigerten Ego gibt es aber noch eine andere Form des Egos. Diese Form wird relevant, wenn wir uns kleiner machen als wir sind. Gerade in NGOs fällt es vielen Führungskräften schwer, die Macht bewusst anzunehmen, die uns auf Zeit übertragen wurde. Wir haben dann das Gefühl, diese Macht steht uns nicht zu. Besonders Führungskräfte, die aus marginalisierten Gruppen (Gender, Klasse, Hautfarbe, …) kommen, haben damit zu kämpfen. Die Akzeptanz der eigenen Macht kann als Widerspruch zur eigenen Herkunft und zur historisch gelernten Zuschreibung von Ohnmacht verstanden werden. So leiden z.B. überproportional viele Frauen in Führungspositionen unter dem sogenannten “Hochstapler-Syndrom”[25].

Robert Gass widmet dieser Ambivalenz in seinem Tool “Verwirrungen im Umgang mit Macht” viel Raum. Er macht klar, dass dieses Phänomen kein individuelles Problem ist. Es sind Erlebnisse im Umgang mit destruktiver Macht, die wir oder unsere Vorfahren gemacht haben und die es uns schwer machen, uns heute als machtvoll zu akzeptieren. Robert Gass empfiehlt, diese ambivalenten Gefühle zunächst zu akzeptieren und sich mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen auszutauschen. Es kann mir helfen, mir meiner eigenen “Macht von Innen” bewusst zu werden. Ich kann dabei lernen, dass es beim Annehmen der mir verliehen Macht, nicht um mein Ego geht, sondern um einen tieferen Sinn, der weit darüber hinausgeht.

Tool “Verwirrungen im Umgang mit Macht” von Robert Gass

Der Umgang mit Macht stellt uns deshalb vor Herausforderungen, weil wir der Welt voller Widersprüche und Graubereiche, in der wir leben und in der wir handeln müssen, nicht entfliehen können. Manchmal gelingt der Übergang von “Macht über” zu “Macht gemeinsam mit” nicht. Und manchmal ist der Einsatz von “Macht über” sogar geboten. Diesen Fragen stellen wir uns im letzten Teil.

Und wo sind die Haken?

Begegnungen auf Augenhöhe – von Subjekt zu Subjekt; Lernen aus Widersprüchen, welches die Organisation, das Projekt, die Abteilung stärker macht; Führungskräfte, die marginalisierte Interessen erkennen und in die Organisation integrieren. Das klingt großartig. Wenn das alles so funktioniert, warum arbeiten nicht alle Organisationen längst als Kollektiv? Warum sind die meisten großen Organisationen hierarchisch strukturiert?

Drei wesentliche Probleme sprechen für hierarchische Strukturierung:

Zeit und Geschwindigkeit: Gleichberechtigte Zusammenarbeit und Entscheidung auf Augenhöhe braucht Kommunikation. Und Kommunikation braucht Zeit. Während zu zweit oder in Kleingruppen Entscheidungen noch schnell auf Augenhöhe zu treffen sind, wächst das Geschwindigkeitsproblem, je größer eine Gruppe wird. Jede hinzukommende Person steigert den Kommunikationsbedarf rasant.[26] Der Zeitaufwand, alle Beteiligten in einer Organisation gleichberechtigt in Kommunikation und Entscheidungen einzubeziehen, steigt also erheblich mit zunehmender Größe. Arbeitsteilung und Hierarchisierung kann hier hilfreich sein.

Komplexität und begrenzte Lernkapazitäten: Gute, gleichberechtigte Entscheidungen auf Augenhöhe brauchen einen vergleichbaren Informations- und Kompetenzstand unter den Entscheidungsbeteiligten. Alle auf einen ausreichenden Informations- und Kompetenzstand zu bringen, wird aufwändiger, je größer die Organisation wird. Und je größer die Organisation, desto komplexer werden in der Regel die Fragen, die zu beantworten sind. Auch hier kann Arbeitsteilung und Hierarchisierung hilfreich sein.

Gefahr von Blockaden: Je mehr Menschen an Entscheidungen beteiligt sind, desto mehr Interessen und Perspektiven fließen in die Entscheidung ein. Das macht Entscheidungen möglicherweise besser. Es erhöht aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine für alle zufriedenstellenden Lösung nicht schnell gefunden werden kann. Interessen können unvereinbar sein. Dies gilt zum Beispiel für grundsätzliche Zielkonflikte in einer Organisation oder auch bei erheblichen Performanceproblemen, bei denen nur noch eine Entlassung möglich scheint. Ein anderes Problem sind Situationen, in denen sich in einer Organisation Kartelle um unverdiente, ungerechte Privilegien gebildet haben und diese Änderungen per Veto blockiert würden[27]. Hierarchische Entscheidungen oder Entscheidungen im Schatten von Hierarchie können Blockaden schnell auflösen.

Wie können wir in unserer Organisation transformationale “Macht gemeinsam mit” statt “Macht über” entwickeln und gleichzeitig die guten Gründe für hierarchische Steuerung nicht ignorieren?

  • Kleine kollektive Strukturen: Für kleine kollektive Strukturen bestehen die oben genannten Probleme kaum. Es gibt genug Raum, dass sich alle Beteiligten intensiv miteinander auseinandersetzen und für auftretende Fragen ad hoc situationsangemessene Lösungen finden. Es scheint kaum agilere, lernfähigere und anpassungsfähigere Strukturen als kleine Teams zu geben.
  • Replikation kleiner, autonomer Teams: Manche Missionen sind durch eine Multiplikation kleiner, agiler Strukturen zu erreichen. Das Buch “Reinventing Organisations”[28] beschreibt u.a. das niederländische Unternehmen Buurtzorgs, welches mit der Replikation kleiner, dezentraler, autonomer Teams den niederländischen Pflegemarkt komplett umgekrempelt hat. Hierarchie wird bei Buurtzorg bewusst abgelehnt. Trotzdem beschäftigt das Unternehmen zwischenzeitlich etwa 10.000 Menschen. Auch in vielen Tech-Unternehmen wird bei der Software-Produktion auf kleine, selbstorganisierte Teams gesetzt.
  • Kollektive Führung: Mehr und mehr Organisationen setzen auf kollektive, diverse Führungsteams, um die Nachteile zu vermeiden, die durch einsame Entscheidungen in der Organisationsspitze entstehen. Das Vorbild von “Macht gemeinsam mit” innerhalb des Führungsteams kann sich dann im Erfolgsfall auf andere Führungskräfte und Teams innerhalb der Organisation übertragen. Wichtig ist, dass Vorkehrungen getroffen werden, wie mit möglichen Blockaden im Führungsteam umgegangen wird. Hier können Mehrheitsentscheidungen oder die Delegation von strittigen Entscheidungen z.B. an einen Aufsichtsrat helfen.
  • Transparenter Wechsel zwischen “Macht über” und “Macht gemeinsam mit”: “Macht gemeinsam mit” ist weniger eine Struktur als eine Kultur- und Haltungsfrage. Können Mitarbeiter*innen darauf Vertrauen, dass der Modus “Macht gemeinsam mit” in einer Organisation die alltagspraktische Norm ist, die auch von der Organisationsspitze gewollt und gelebt wird? Wenn es dieses grundsätzliche Vertrauen gibt, wenn Hierarchie und Arbeitsteilung nicht mit den Insignien positionaler Macht, sondern mit funktionalen Vorteilen für die gemeinsame Vision und Mission verbunden sind, können sich Hierarchie und Arbeitsteilung mit “Macht gemeinsam mit” ergänzen.

    Die Nutzung von “Macht über”, um z. B. gegen den Missbrauch von Macht innerhalb der eigenen Organisation vorzugehen, um Blockaden aufzulösen oder um bei Bedarf schnelle Entscheidungen zu ermöglichen, kann von Mitarbeiter*innen auch als Schutz und Unterstützung verstanden werden.

    Schwieriger ist es, wenn die Vision und Mission der Organisation nicht mit den Fähigkeiten und Perspektiven von Mitarbeiter*innen in Einklang gebracht werden kann. Dabei kommt es regelmäßig zu Situationen, wo auch nach bestem Willen auf beiden Seiten auf der Ebene von “Macht gemeinsam mit” und gemeinsamen Treffen und Prozessen nichts mehr weitergeht. Es kommt zu Entlassung oder Kündigung. Die Situation ist vergleichbar mit der einer Ehe oder Partnerschaft, die auseinander geht. Im Falle einer Trennung wechselt ein*e Partner*in vom Modus der Gestaltung in den Modus der Wahl. In diesem Moment wird “Macht über” in der Beziehung dominant. Die Abhängigkeiten und Handlungsmöglichkeiten sind in der Regel ungleich verteilt. Dies gilt in hierarchisch strukturierten Organisationen um so mehr. U.E. gibt es für diese Situation aus der transformationalen Perspektive keine gute Lösung.

    Als transformational Führende können wir uns aber der besonderen Verantwortung stellen, die sich aus der uns gegebenen positionellen Macht ergibt. Unsere Aufgabe ist es, in diesem Fall einerseits sehr klar und transparent zu kommunizieren und andererseits jede für die Trennung unnötige Verletzung zu vermeiden. Da Konflikte hier auf allen Seiten sehr tief gehen können, sollten wir als Führungskräfte sicherstellen, dass wir selbst ohne Trigger handeln und uns über unsere Motive im Klaren sind. Die eigene Rückbesinnung auf die “Macht von innen” und den “tieferen Sinn”, Reflexion im Coaching oder strukturell die Begleitung durch einen Betriebsrat können helfen, übertragene Macht ausgerichtet auf die Vision der Organisation auszuüben und die verletzenden Wirkungen von Macht so gering wie möglich zu halten.

Fazit und Ausblick

Schon wie wir über Macht nachdenken, macht einen Unterschied: Sind nur die da oben mächtig? Gerade für transformational Leitende in sozialen Bewegungen und Organisationen sozialen Wandels ist es hilfreich, Macht breiter zu verstehen und um ein Verständnis von “Macht gemeinsam mit” wie auch um “Macht von innen” zu erweitern.

Dann bekommt die Ausrichtung auf eine gemeinsame Vision (the power of purpose) eine besondere Bedeutung. Diese setzt Kräfte frei und Motivation und schafft grundlegende Orientierung – unabhängig von Personen. Wichtige Aspekte bei “Macht gemeinsam mit” sind außerdem Verantwortung teilen, zuhören, auf Augenhöhe kommunizieren und Konflikte proaktiv klären. Auch Strukturen und Regeln implizieren (Gestaltungs-)Macht; insofern ist es angemessen, diese immer wieder an der Vision zu überprüfen und schließlich auf eine inklusive Kultur hinzuarbeiten und sich Privilegien regelmäßig bewusst zu werden und zu überprüfen.  

Wie wir als Führungsperson leiten, macht einen Unterschied. Zentral dabei ist die eigene innere Ausrichtung und Balance: Was motiviert mich eigentlich? Was ist mein innerer tiefer Sinn, für den ich die (Leitungs)Aufgabe übernehme? Wie schaffe ich es, nach Irritationen wieder in meine “Zone of Leadership”, meine innere Balance zu kommen, um von da aus zu handeln (Umgang mit Triggern)? Selbstfürsorge und persönliche Ökologie gehören zu den Leitungsaufgaben, damit wir im Vollbesitz unserer kognitiven und emotionalen Fähigkeiten im Modus der “Macht gemeinsam mit” handeln können und nicht als Getriebene. Um eigenes Leitungsverhalten zu reflektieren und um zu lernen, können Coaching, Supervision, Fortbildung oder kollegiale Beratung sinnvoll sein. Es sind auch Räume, um sich selbst bewusster über eigene Motivationen (Purpose und Ego), Bedürfnisse und Wirkungen zu werden (vgl. Möbiusschleife).

“Macht gemeinsam mit” allen Beteiligten kann an ihre Grenzen kommen und kann dann nur in kleinen kollektiven, möglichst diversen Strukturen umgesetzt werden. In bestimmten Situationen kann auch der “Macht über” Entscheidungsmodus nötig sein. Hilfreich dafür ist Klarheit und Transparenz, wann wie entschieden wird.

Wer leitet, hat die Macht, eigenes Licht oder auch eigenen Schatten auf viele andere zu werfen, schreibt Parker Palmer sinngemäß. Wir hoffen, dass dir dieser Artikel geholfen hat, deinen Blick auf das Phänomen Macht in deinem Kontext zu schärfen. Und vielleicht hast du auch Felder entdeckt, in denen du noch weiter am Thema Macht und deinem Umgang mit Macht forschen willst.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Vasa_(Schiff)

[2] Parker J. Palmer (1991) Let Your Life Speak: Listening for the Voice of Vocation. Sinngemäß auf deutsch: Eine Leitungsperson ist jemand mit der Macht, den eigenen Schatten oder das eigene Licht auf andere zu werfen. Eine Leitungsperson formt den Kontext, in dem andere leben müssen, ein Kontext, so licht wie der Himmel oder so schattig wie die Hölle.

[3] Das Hochstapler-Syndrom bezeichnet die Angst vieler Menschen, andere irgendwie darin zu täuschen, sie wären kompetenter als sie selbst eigentlich sind. (https://de.wikipedia.org/wiki/Hochstapler-Syndrom).

[4] Starhawk und Simous, Miriam (1990) Truth or Dare. San Francisco.

[5] Weber, Max, (1985) Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auflage. Tübingen. S. 28.

[6] siehe Burns, James M. (1978) Leadership. New York

[7] siehe Lukes, Steven (1974) Power. A radical view. London.

[8] Lakey, George (2018) How we win. Brooklyn, London.

[9] Siehe auch Lakey, George (2018) How we win. Brooklyn, London

[10] Wobei zu beachten ist, dass Strukturen als soziale Wirklichkeit wiederum selbst konstruiert sind und zu ihrem Bestehen und Wirksamkeit geteilter Anerkennung bedürfen.

[11] siehe auch Arendt, Hannah (1995) Macht und Gewalt. München

[12] Das schließt nicht aus, dass auch in Organisationen Sozialen Wandels um angemessene Löhne und Lohnunterschiede gerungen wird. Würde die Lohnfrage aber nur transaktional betrachtet, wären die Lohnunterschiede zu vergleichbaren Positionen in der Wirtschaft vermutlich kleiner und viele Organisationen Sozialen Wandels wären in ihrer Leistungsfähigkeit sehr eingeschränkt oder könnten gar nicht existieren.

[13] Fromm, Erich (1956) The Art of Loving. New York.

[14] Rosenberg, Marshall B. (2012) Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. 10. Auflage. Paderborn

[15]Argyris, Chris; Schön Donald A. (1999) Die lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis. Stuttgart

[16] Lakey, George (2018) How we win. Brooklyn, London

[17] Robert Gass ist ein erfahrener Führungstrainer und Organisationsberater, Coach und Rockmusiker in den USA. Er promovierte in Organisations- und klinischer Psychologie an der Harvard University. Das von den Autor*innen dieses Textes angebotene Transformational Leadership Training geht auf ein vergleichbares Training von ihm zurück.

[18] Gass, Robert (2013) Confusion around Power (atctools.org/tools-for-transformation/confusion-around-power/)

[19] vgl. “Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.” Bibel, Apostelgeschichte 5,29b.

[20] Gass, Robert (2015) The Zone of Leadership: Managing Your State of Being, https://atctools.org/tools-for-transformation/the-zone-of-leadership/

[21] Palmer, Parker (2004) A Hidden Wholeness: The Journey Toward an Undivided Life.

[22] Problematisch wird es, wenn innen und außen nicht mehr zusammen gedacht werden können, nicht mehr zusammenpassen. Es kann passieren, dass wir uns dann selbst nicht im inneren Kreis verorten, sondern uns auch vor allem von außen betrachten. Das kann passieren, wenn wir wichtige eigene Anteile unseres Selbst ablehnen. Erschreckendes Beispiel dafür ist die weiterhin enorm große Zahl von Selbstmorden unter Jugendlichen, die irgendwann entdecken, dass sie homosexuell sind. Aufgrund von übernommenen, externen Wertvorstellungen dient der innere Kreis nicht mehr als erholsamer Rückzugsraum von externen Rollenerwartungen.

[23] Frederick Taylor (Taylorismus) formulierte diese Vorstellung im Extrem. Für ihn gab es eine objektiv richtige Form, wie Arbeiten in einer Organisation so effizient und effektiv wie möglich gestaltet werden können. Dazu schlug er vor, Arbeitsabläufe wissenschaftlich immer weiter zu messen und zu optimieren und Denk- und Umsetzungsprozesse zu trennen. Dadurch könnten die Voraussetzungen, einzelne Arbeitsschritte durchführen zu können, so klein wie möglich gehalten werden. Der/die Arbeiter*in würde austauschbar und zum Objekt des Produktionsprozesses. (Taylor, Frederick W. Taylor (2006) The principles of scientific management. New York (Nachdruck der Ausgabe: Harper & Brothers, London 1911).

[24] vgl. Rohr, Richard (2012) Immortal Diamond: The Search for Our True Self.

[25] vgl. Fußnote 3.

[26] Genaugenommen steigt die Anzahl der Kommunikationsbeziehungen gemäß der Formel “n(n-1)/2”. Dank an Oliver Moldenhauer für diesen Hinweis!

[27] Als Beispiel könnte eine Kirchengemeinde dienen, wo die wichtigsten Mitglieder des Gemeinderates in einem Gemeindehaus zu ausgesprochen günstigen Mieten wohnen. In diesem Fall wäre kaum anzunehmen, dass die Frage einer Mietanpassung zugunsten der Gemeindefinanzen im Konsens mit den betroffenen Gemeindemitgliedern getroffen werden könnte.

[28] Laloux, Frederic: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, 2015; https://pflegia.de/artikel/persoenlicher-pflegen-ein-vorschlag-aus-den-niederlanden